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Vom Unsinn passgenauer Stellenbesetzungen

Aus dem Archiv für HR Today von Sabine Biland-Weckherlin

Vor dem Hintergrund des beklagten Fachkräftemangels wäre eine Abkehr von starren Vorgaben hin zu flexibleren und beherzteren Personalentscheiden zumindest ein Versuch wert. Und das Beste dabei: Es liesse sich möglicherweise manche kostspielige Fehlbesetzung verhindern.

Ein Szenario aus unserem Beratungsalltag: Es bewerben sich drei Kandidat:innen auf dieselbe Stelle. Bewerberin A übt bereits seit x Jahren dieselbe Tätigkeit in derselben Branche aus; Bewerber B erfüllt dieselben fachlichen Voraussetzungen in einem branchenfremden Umfeld, ist jedoch noch jünger und motiviert; Bewerberin C bringt das geforderte Rüstzeug mit, einen vifen Geist und eine überzeugende Persönlichkeit, war aber noch nie in der exakt selben Funktion tätig. Suggestive Quizfrage: Wer erhält den Zuschlag? Selbstverständlich die bewerbende Person mit der grössten fachlichen Übereinstimmung zum Stellenprofil. Die Neue hat sich wie ein Puzzleteil in die vorgesehene Öffnung einzupassen.

Vom Beispiel in die Realität

Dieses Beispiel mag plakativ klingen, entspricht aber leider einem gängigen Muster der von uns begleiteten Stellenbesetzungen in einer zunehmend risiko-aversen Unternehmenswelt. Menschen tendieren dazu, in Entscheidungssituationen die Lösung mit dem geringsten Risiko zu wählen. Dies ist sicherer, aber nicht immer besser. Denn so lassen sich Firmen oft top motivierte Bewerber:innen und die Chancen einer belebenden, internen «Frischzellenkur» entgehen: Jede Neuanstellung hat gleichzeitig auch das Potenzial einer kreativen Erneuerung.

Das gilt für alle Kandidat:innen, die von der meist rigiden Vorgabe der Passgenauigkeit abweichen, dafür aber ein anderes Plus mitbringen: Kandidat:innen mit einem gewissen Erfahrungsdefizit, dafür aber mit überdurchschnittlichem Lernwillen; angebliche Jobhopper, Kandidat:innen über 50 oder jene, die als überqualifiziert gelten und gemäss gängigen Vorurteilen bei der nächsten Gelegenheit gelangweilt abspringen. Es wäre dies der Moment, die entsprechende Position aufzuwerten, das Niveau des geleisteten Services anzuheben und damit auch dem Team einen positiven Aufschwung zu verleihen. Vom Idealbild abweichende Kandidat:innen können möglicherweise bereichernde zusätzliche Kompetenzen und ergänzende Erfahrungen mitbringen.

Die Utopie der «Passgenauigkeit»

Risikofreie Stellenbesetzungen sind noch lange kein Garant dafür, dass der ideale Kandidat oder die ideale Kandidatin tatsächlich den erhofften Mehrwert bietet. Oft kommt es vor, dass solche «passgenauen» Kandidat:innen in der neuen Position rasch Abnützungserscheinungen zeigen, weil sie alles schon von früher kennen und zu wenig gefordert sind.

Der Fokus sollte darum primär bei den Soft Skills des zukünftigen Stelleninhabers liegen und erst in zweiter Linie bei den Hard Skills. Auf diese Weise würden zuvor als «exotisch» klassifizierte Bewerbende wieder vermehrt berücksichtigt und das Unternehmen profitiert von neuen Ansichten und frischem Wind. Vor dem Hintergrund des beklagten Fachkräftemangels wäre eine Abkehr von starren Vorgaben hin zu flexibleren und beherzteren Personalentscheiden zumindest ein Versuch wert. Und das Beste dabei: Es liesse sich möglicherweise manche kostspielige Fehlbesetzung verhindern.