«HR Today» / von Sabine Biland-Weckherlin
Der definierte Radius der Wunsch-Arbeitsplätze aus Kandidatensicht beschränkt sich im Grossraum Zürich oft auf die Zürcher Innenstadt. Trotz des allgegenwärtigen Gedränges in Trams und Zügen und der oft überteuerten, engen Mittagslokale hält die City den Spitzenplatz auf der Beliebtheitsskala. Liegt der Arbeitsort ausgeschriebener Stellen in der Agglomeration von Zürich, reagieren Stellensuchende oft ablehnend. Erstaunlicherweise ist dabei im Kandidatenranking Winterthur – immerhin eine Grossstadt – teils gleichermassen unbeliebt wie Affoltern oder Adliswil. Von Niederbipp erst gar nicht zu sprechen – obwohl dort unter Umständen eine attraktive Stelle mit allen Vorzügen eines tollen Arbeitgebers in Aussicht steht. Firmen beklagen auch die abnehmende Umzugsbereitschaft der Schweizer ins Ausland – während beispielsweise Asien oder Amerika früher Magnetkraft hatten.
Ein pauschalisierender Rundumschlag liegt mir fern, doch häufen sich unsere Beobachtungen, wonach offenbar gewisse Kandidaten bezüglich Arbeitsmarktentwicklung die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben: Gegenläufig zur zunehmenden Anspruchshaltung der Arbeitgeber nimmt die individuelle Kompromissbereitschaft der Kandidaten tendenziell ab. Dies steht im krassen Gegensatz zur Flexibilität, die in den Motivationsschreiben im Rahmen des Selbstmarketings nahezu ausnahmslos gerühmt wird. Die Forderungen, welche in den Bewerbungsgesprächen geäussert werden, beinhalten meist einen Arbeitsort an zentraler Lage – idealerweise mit Parkplatz – und Salärvorstellungen auf dem Stand von vor der Finanzkrise 2009. Diese Haltung lässt sich gehäuft innerhalb einzelner Berufsgruppen feststellen. Die fehlende Flexibilität schliesst Stellenangebote, die ausserhalb der persönlichen Komfortzone liegen, von vorneherein aus. Der Grund hierfür hat vermutlich mit dem oftmals (noch) fehlenden Leidensdruck in weiten Teilen unserer Bevölkerung zu tun. Unsere Schweizer Wohlstandsgesellschaft scheint viele Arbeitnehmende zum Irrglauben zu verleiten, dass es im Wunschkonzert des Stellenmarktes auch weiterhin ohne Abstriche gehen wird.
Während der durchschnittliche Arbeitsweg bei gesamthaft einer Stunde Fahrzeit pro Tag liegt – und das RAV zwei Stunden Arbeitsweg als zumutbar erachtet –, sind diese zeitlichen Aufwendungen im grösseren Kontext fast märchenhaft. Man muss den Blick beileibe nicht nach London richten, um festzustellen, dass wir hierzulande bezüglich geografischer Mobilität auf sehr hohem Niveau leiden. Stellenausschreibungen, die eine Tätigkeit ausserhalb des gewünschten Ballungszentrums verlangen oder die Schmerzgrenze punkto Pendeln übersteigen, stossen in bestimmten «Kandidatenpopulationen» gänzlich auf Desinteresse. Ein Wohnortswechsel steht schon gar nicht zur Diskussion. Bei der Wahl des Arbeitsortes sind praktische Überlegungen offenbar nicht selten sekundär: Auch, wenn der Wohn- und potentielle neue Arbeitsort in unmittelbarer Nähe liegen – aber ausserhalb der verlockenden City –, werden die entsprechenden Stellenangebote teils mit erstaunlich kreativen Ausreden verworfen.
Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass im Gegensatz dazu eine ungleich höhere «Opferbereitschaft» respektive Anpassungsfähigkeit bei ausländischen Stelleninhabern festzustellen ist. Grenzgänger zeichnen sich durch besondere Flexibilität aus. Zum Beispiel jene, die ihren festen Wohnsitz und ihre Familie im Ursprungsland belassen und sich zugunsten eines attraktiven Jobs unter hohem persönlichem Verzicht unter der Woche hier verdingen. Es ist nicht weiter erstaunlich, dass ausländische Arbeitnehmer alles in allem trotz unserer höheren Lebenshaltungskosten immer noch gerne in die Schweiz kommen, wenn auch in rückläufigem Mass.
Diese Tendenz, der beklagte Fachkräftemangel oder auch ein eventueller Inländervorrang, bergen für unser Land nicht nur neue Chancen, sondern verlangen gleichzeitig von uns mehr Flexibilität und weniger Bequemlichkeit. Für einmal sind nicht nur die Firmen mit innovativen Lösungen gefordert, wie sie vielerorts in flexiblen Beschäftigungsmodellen bereits bestehen, sondern ebenso die arbeitstätige Bevölkerung. Wer in Zeiten der fortschreitenden Digitalisierung und der aufkommenden Roboterisierung auch zukünftig auf dem Arbeitsmarkt bestehen will, kann sich nicht länger auf die bisherigen Annehmlichkeiten der Wohlfühloase Schweiz berufen. Dies bedeutet keineswegs, dass wir die bisherigen gesellschaftlichen Errungenschaften über Bord werfen und unsere persönlichen Bedürfnisse gänzlich verleugnen sollen. Die Wahrheit liegt viel eher zwischen individueller Machbarkeit und einem geschärften Realitätssinn für die Anforderungen des aktuellen und künftigen Arbeitsmarktes. Noch viel mehr als bisher wird in einer sich massiv verändernden Arbeitswelt längerfristig der Flexiblere – geografisch oder mental – das Rennen um die verfügbare Stelle machen.