Artificial Intelligence – der Heilsbringer im HR?
By Thomas A. Biland, Mai 2021
Die Digitalisierung verändert unser Leben täglich und bringt uns allen zweifelsohne einen grossen Nutzen. Gleichzeitig eröffnet uns der technologische Fortschritt Möglichkeiten, wie wir sie seit der industriellen Revolution in diesem Ausmass nicht mehr gesehen haben. Wo Licht ist, ist auch Schatten. In einem noch weitgehend kaum regulierten Bereich stellen sich Fragen, wie wir z.B. Artificial Intelligence nutzen wollen, um zu verhindern, dass uns eines Tages Probleme entstehen, die wir zu Beginn nicht wahrhaben wollten.
Künstliche Intelligenz (KI), auch artificial intelligence (AI) geht auf frühe Arbeiten von Alan Turing zurück. AI ist ein Teilgebiet der Informatik, das sich mit der Automatisierung von intelligentem Verhalten sowie maschinellem Lernen befasst.
Meist bezeichnet AI den Versuch, bestimmte Entscheidungsstrukturen des Menschen nachzubilden, indem z. B. ein Computer so gebaut und programmiert wird, dass er relativ eigenständig Probleme bearbeiten kann. Oder es wird eine nachgeahmte Intelligenz geschaffen, wobei durch meist einfache Algorithmen ein „intelligentes Verhalten“ simuliert werden soll.
Kürzlich erhielt ich eine E-Mail eines Schweizer Unternehmens. Das Angebot: Eine AI basierende Lösung, mit der aufgrund von Gesichtsanalysen ein guter Kandidat gefunden werden könne. Mir kamen spontan Erinnerungen an die Physiognomik, u. a. zu Zeiten des Dritten Reichs, in den Sinn.
AI im Rahmen der Kandidatenselektion einzusetzen ist per se eine logische Konsequenz von viel grösseren verfügbaren Datenmengen. Bewerbungen, beispielsweise, werden heute viel einfacher und schneller erstellt als vor 30 Jahren, als alles fein säuberlich gebunden und via Post eingesandt wurde. Die Menge an zu bewältigenden Dossiers hat auch infolge der Globalisierung massiv zugenommen.
Neben der grösseren Anzahl an zu verarbeitenden Bewerbungsunterlagen spielen weitere Faktoren mit. Heute werden engere Profile gesucht als noch vor 20 Jahren: Generalisten sind kaum mehr gefragt. Gerade bei grösseren, mehr corporate geführten Firmen, werden allerdings auch eher «Parteisoldaten» gesucht, die millimetergenau passen müssen. Dies äussert sich in den mit «buzzwords» gefüllten CVs. Anderseits bewerben sich heute Kandidaten auf gewisse Profile, die das Anforderungsprofil wohl nie richtig gelesen haben oder sich lediglich im Stellentitel wiederfinden. Gleichzeitig wird in Suchen meist der «unternehmerische Macher» gewünscht. In der Realität grösserer Firmen findet aber eine zusehends stärkere Prozessorientierung und Spezialisierung mit Aufteilung in Teileinheiten statt. Zeitgleich führt dies zu mehr Micro-Management, während die jüngere Generation gleichzeitig nach mehr Freiheiten verlangt: Homeoffice, flexible Arbeitszeiten, Teilzeit-Modelle, Job-Sharing, Job Enrichment usw.
In den USA wirken noch andere Aspekte in die CV-Gestaltung ein, die stark vom Gedanken der Chancengleichheit getrieben sind: Auslassung des Geburtstagdatums oder privater Details, des Zivilstands oder Bewerbungsbilds und politisch unkorrekter Fragen in den Evaluationsgesprächen. All dies erfolgt mit dem ursprünglichen Ziel, persönliche Informationen als diskriminierenden Ausschlussgrund zu eliminieren.
HR ist zu oft schwergewichtig mit Prozessen und Administration beschäftigt. Daher sind Tools gesucht, welche die internen Abläufe beschleunigen und vereinfachen. Entweder sind es oft junge Mitarbeitende, welche die Erstauswahl vornehmen und denen oftmals schlicht die Lebenserfahrung fehlt, oder es sind «evaluation tools», die «screening tools», welche das Kandidatenfeld früh lichten. Durch dieses Vorgehen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass «Perlen» nicht gefunden werden, da sie durch das engmaschige Raster fallen.
In einem solchen Umfeld wird der Einsatz von AI interessant, denn er reduziert über Algorithmen die Komplexität wie auch die Berge an Bewerbungsunterlagen und soll dies im Sinne einer Weiterentwicklung unseres Denkens und Handelns tun. AI wird somit zum No-brainer, wie es PWC in einem Report schrieb. Wenn es um fachliche Kriterien, geht ist das durchaus sinnvoll, denn diese stützen sich auf harte Fakten. Wenn es aber darum geht, Alter, Hautfarbe, Geschlecht etc. auszuscheiden, dann wird es bereits fragwürdig.
Doch was nützt der Einsatz von AI, wenn dadurch zwar der Workload reduziert wird, jedoch im schlimmsten Fall eine Fehlbesetzung erfolgt? Dann verpufft der Effizienzgewinn rasch und verkehrt sich ins Gegenteil, was letztlich in Folgekosten und einer erneuten Suche resultiert. AI wird im Moment vor allem als Heilsbringer gesehen, der den perfekten Match zwischen Firma und Kandidat, zwischen der Persönlichkeit und der Firmenkultur bringt. Aber sie bringt auch Risiken mit sich: Indem Suchen zu eng erfolgen und nicht messbare Qualitäten verloren gehen, der Faktor Mensch als Korrektiv ausgeschaltet wird oder durch das Vorhandensein sogenannter Bias im Algorithmus (Beispiel Amazon).
In Zeiten zunehmender Standardisierung unseres Lebens (Facebook, Instagram, Convenience Foods, globale Einheitstrends usw.) wird sich dies auch zusehends in der Rekrutierung äussern. Was passiert jedoch mit all den CVs, die auf den ersten Blick nicht passen? Meisterleistungen sind kaum je auf Konformität aufgebaut, sondern von Persönlichkeiten erschaffen worden, die ausserhalb der Norm dachten und handelten. Elon Musk (Tesla) mag hier ein aktuelles Beispiel sein.
Ist der Einsatz von AI abhängig von der Unternehmens-Struktur (sog. Corporate vs. KMU)? Sind Corporates tendenziell uniformer in den Profilen und Erwartungen? So gesehen wäre der Anspruch an Individualität und Breite etwas weniger wichtig und der Einsatz von AI tendenziell sinnvoller. Die Passung würde damit ins Zentrum rücken. Im Gegensatz sind KMU tendenziell aufgrund ihrer (finanziellen) Möglichkeiten und Ressourcen eher auf Breite, ein gewisses Generalistentum und eine besondere Identifikation der Mitarbeitenden mit dem Unternehmen angewiesen, um gegen die Grossen zu bestehen.
Wenn AI eines Tages vollkommen autonom entscheidet, dann wird ein Teil der Bewerber durch die Maschen fallen, obwohl sie durchaus einen Mehrwert bringen könnten. Anderseits werden Firmen jedoch auch auf die «Perlen» verzichten müssen – es sei denn, sie geben sich die Mühe, mittels manuellem Aufwand nach ihnen zu suchen. Die Besetzung von kritischen Profilen ausschliesslich mittels Executive Search und Active Sourcing wir dann noch wichtiger.
Neben all den positiven Effekten, die die neuen Technologien für uns alle haben, ist es unsere Pflicht, Fragen der ethischen Grenze von AI zu stellen. Dabei kann ein Ethical Code (Google startete vor einigen Jahren eine «AI for Social Good»-Initiative, entliess dann aber unter fragwürdigen Umständen die Nr. 2 in diesem Projekt) hilfreich sein. Braucht es einen solchen (analog wie wir ihn z Bsp. bei der Gentechnologie für die Fortpflanzung diskutieren) oder lässt man der Entwicklung freien Lauf. Im Sinne einer vorausschauenden Regulierung ist der aktuelle Gesetzesentwurf der EU-Kommission zum Umgang mit Künstlicher Intelligenz beachtenswert, denn er will weltweit Standards setzen.
Doch zurück zum Start: wo sind die Grenzen solcher Tools? Ist ein «face analyzing tool» moralisch überhaupt vertretbar, ist es nicht die Vorstufe zur Diskriminierung? Vergleichbar mit dem “Ausradieren“ der Kultur von Andersdenkenden, wie wir es im Moment in China mit den Uiguren sehen, um nur ein Beispiel zu nennen?
Es braucht eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema AI in der Personalauswahl, wollen wir nicht Tür und Tor für offene oder viel eher versteckte Diskriminierung schaffen. Es stellt sich zu einem gewissen Teil die Frage, was wir Menschen wollen und was wir auch als Gesellschaft als wesentliche Grundlage für den Erfolg eines Unternehmens erachten.