Geht es darum eine offene Stelle zu besetzen, haben Entscheidungsträger Angst vor Fehlentscheidungen. Unternehmen suchen nach Klonen des aktuellen Stelleninhabers und Vorurteile sind allgegenwärtig. Dadurch gehen Firmen wertvolle Kandidaten durch die Lappen. Ein Plädoyer für mehr Weitsicht, Offenheit und Mut im Recruiting.
«Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen.» Bei Aschenputtel werden Linsen aussortiert, im Bewerbungsprozess sind es Kandidatendossiers: Die «Tauglichen» kommen eine Runde weiter, die «Untauglichen» in den Absagestapel. Im Märchenklassiker handelt es sich nur um Taubenfutter, im realen Leben um Menschen.
In durchschnittlich mageren sechs Sekunden pro Dossier entscheiden Recruiter darüber, wo ein CV landet. Durch dieses Nadelöhr im Selektionsprozess, das oft von sehr jungen und unerfahrenen HR-Mitarbeitenden bewacht wird, müssen die Kandidaten durch. Risikoangst und Vorurteile bei den Entscheidungsträgern kommen erschwerend hinzu.
Bloss keine Fehlentscheide!
Compliance- und Risikodenken sowie die drohenden Konsequenzen bei Fehlentscheiden führen dazu, dass sich jeder Einzelne absichern will. Das führt zu der weitverbreiteten «Cover-my-Ass»-Haltung von Entscheidungsträgern. Bitte verzeihen Sie mir den Ausdruck – viel treffender lässt sich diese Tendenz leider nicht ausdrücken.
Gemäss Arbeitsmarktstudie 2015 von Robert Half haben 72 Prozent der Schweizer Unternehmen schon einmal eine Fehlbesetzung getätigt. Die Folgen von Fehlanstellungen sind bekanntlich gravierend: Sie reichen von hohen Kosten über sinkende Produktivität, Imageeinbusse bis hin zu betrieblicher Unruhe.
Jede personelle Anstellung stellt also ein Wagnis dar. Ein Nullrisiko im Umgang mit Menschen gibt es nicht, trotz mehrstufiger Absicherungs- und Prüfmechanismen. Um Bewährtes zu erhalten, suchen Firmen oft nach Klonen, Zwillingsbrüdern und Ebenbildern des aktuellen Stelleninhabers oder des Vorgesetzten. Bloss keine Profilabweichung – damit machen es sich Entscheider einerseits möglichst einfach und verhindern gleichzeitig unnötige, der eigenen Karriere abträgliche Experimente bei der Neuanstellung. Aber: Dieses Vorgehen bietet nur vermeintlich Sicherheit und trägt nichts zur Qualität der Personalauswahl bei.
Also stellt sich die Frage, wie sich diese Qualität verbessern liesse – losgelöst von Algorithmen und Assessments. Aus Sicht der Personalberaterin scheint mir gelegentlich, dass bei zunehmender Fülle technischer Hilfsmittel die einfachsten und billigsten Grundsätze der Personalbeurteilung vergessen gehen: Zeit, Unvoreingenommenheit und Mut.
«Husch-husch»-Recruiting und vorschnelle Rückschlüsse
Zeitdruck ist die häufigste Ursache für personelle Fehlentscheide in der Rekrutierung. Für Feinheiten in der Dossierbeurteilung bleibt meist wenig Zeit. Kandidaten sollen möglichst effizient nach dem vorgegebenen Raster beurteilt werden. Durch dieses Schematisieren gehen aber wertvolle Kandidaten durch die Lappen, die vielleicht nicht auf den ersten Blick die entsprechenden Qualifikationen haben. Bewerbungsdossiers, die nicht innerhalb der sechs Sekunden die erwünschte Deckungsgleichheit mit dem Vorgabeprofil zeigen, gelangen ins Kröpfchen. So werden auch erfolgversprechende Bewerber mit dem passenden Know-how leichtfertig aussortiert.
Diese Kritik richtet sich nicht nur an Dritte – auch wir in unserer Beratungstätigkeit sind in der nuancierten Beurteilung von Kandidatendossiers gefordert. Und wir werden, selbstkritisch betrachtet, bestimmt nicht allen Bewerbern gleichermassen gerecht. Denn Menschen sind weit mehr als nur ihr Dossier. Fraglich, ob der Mensch mit seiner Vielschichtigkeit über eine schematische Darstellung überhaupt richtig erfassbar ist. Ich bezweifle es. Der CV ist nur seine äusserste, für uns lesbare Schicht. Die dahinterliegende Persönlichkeit und seine Kompetenzen sind weit mehr als eine Summe an Ausbildungen, beruflichen Lebensstationen und individuellen Signalelementen. Um vorschnelles und leichtfertiges Aussortieren zu vermeiden, hilft eine punktuell differenziertere Leseart von Kandidatendossiers.
Übrigens: Selbstverständlich stehen auch die Kandidaten in der Pflicht, ihren Teil zum Erfolg beizutragen. Häufig kommt bei uns der Verdacht auf, dass auch sie sich nicht besonders viel Zeit genommen haben für ihre Bewerbungsunterlagen – gefühlt nicht mehr als die berühmten sechs Sekunden. Wie dieser Eindruck der fehlenden Qualität entsteht? Durch unprofessionelle Bewerbungsbilder, Tippfehler, chronologisches Durcheinander, unprofessionelle Darstellung oder belanglose Motivationsschreiben. Plädoyers für faire Kandidatenbeurteilung in Ehren, aber oft sind die Bewerber tatsächlich selber schuld, dass sie im Kröpfchen landen.
Jobhopper? Überqualifiziert? Zu alt? Zu jung?
«Vorurteile sind Krücken für dumme Leute», besagt eine Redewendung. Doch Vorurteile haben wir alle, da lässt sich nichts beschönigen. Wir alle machen uns auf unsere Weise der Diskriminierung und fehlenden Offenheit schuldig. Wir alle sind auf unsere Weise Meister darin, zuerst das Negative zu erkennen. Scheuklappen beim CV-Screening führen zu bedauerlichen Fehlinterpretationen und zum Verlust wertvoller Kandidatendossiers. Im Bewerberprozess passiert dies auf Kosten der Kandidaten und ihres potentiellen Mehrwerts für das Unternehmen, der möglicherweise nicht auf Anhieb erkennbar ist.
Im Berateralltag erleben wir dies immer wieder bei einem der Klassiker unter den Vorurteilen: der Klassifizierung von Kandidaten als sogenannte Jobhopper. Diese Vorverurteilung lässt gänzlich ausser Acht, dass Stellenwechsel in der heutigen Wirtschaftswelt oft nicht selbstverschuldet sind. Auch das Kandidatenalter (zu jung, zu gebärfähig oder zu alt), Überqualifikation oder der Patchwork-CV ohne sichtbaren roten Faden, gehören in die Hitparade unter den Absagegründen. Zudem stellen wir wiederholt penible Wortklauberei bei der Suche der gewünschten Schlüsselwörter im CV fest.
Der erste Eindruck verstellt den Blick
Wir setzen uns täglich und in Zusammenarbeit mit unseren Kunden mit Nachdruck für eine möglichst vorurteilsfreie und differenzierte Kandidatenbeurteilung ein, weg von Pauschalbeurteilungen und vorgefassten Meinungen. In manchen Fällen trägt unser Einsatz Früchte und führt zu einer wertfreieren Neuinterpretation von Kandidatendossiers. Einmal war es die persönliche Website des Kandidaten, die den Kunden zuerst zu einer Absage verleitete. Heute ist besagter Bewerber ein geschätzter neuer Mitarbeiter der Firma.
Bei einer Grossbank fiel ein Bewerber durch die Maschen des internen Bewerbungstools. Auf Nachhaken des Vorgesetzten hat das HR den damaligen Praktikanten aus dem Absagestapel reaktiviert, und er erhielt im Abkürzungsverfahren eine Festanstellung.
Ob beim handverlesenen Bewerbungsverfahren oder beim digitalen Screening: Wer sorgfältige Auswahlentscheidungen treffen und Stellen nachhaltig besetzen will, sollte in den Dossiers gelegentlich zwischen den Zeilen lesen und Kandidaten eine zweite Chance geben. Oder wie es im Englischen so schön heisst: «Give them the benefit of the doubt.»
Nichts gegen das viel gepriesene und oft bewährte Bauchgefühl – auch nicht in der Personalselektion. In Ergänzung zu den (elektronischen) Tools und verstärkt durch eine nüchterne, sorgfältige Abschätzung zu Pro und Kontra des jeweiligen Kandidaten, kann es von unschätzbarem Wert sein. Kombiniert mit einer Portion gesundem Menschenverstand und Mut lassen sich dabei auch Denkfehler vermeiden.
Der berühmte erste Eindruck verstellt jedoch oft den Blick auf die nachweisbare Qualifikation. Vor allem, wenn wir die Menschen nicht persönlich getroffen haben. Bemühen wir uns daher um eine möglichst wertfreie Einschätzung von Mitmenschen und um eine unvoreingenommene Betrachtungsweise.