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Der heutige Arbeitsmarkt ist noch immer geprägt von teilweise starren, längst überholten Verhaltensweisen. Es ist höchste Zeit aufzuwachen, konstatieren Natalie Spross und Helena Trachsel in unserer traditionellen Podiumsdiskussion. Doch welche Veränderungen sind überhaupt realistisch? Und wie gestalten wir eine zeitgemässe Arbeitswelt, in der alle ihr maximales Potential entfalten können?

Hier können Sie die Podiumsdiskussion in voller Länge verfolgen (01:29:34)

Keine Frage: Tradition und Bewährtes geben uns Halt und Sicherheit. Es gibt Perioden, die von diesen Faktoren bestimmt werden. Aktuell befinden wir uns nicht in einem solchen Zeitabschnitt. Seit der Brite Tim Berners-Lee 1989 am Schweiz-Französischen CERN «sein World Wide Web» präsentierte, bleibt kein Stein mehr auf dem anderen. Was ursprünglich als Plattform für den wissenschaftlichen Austausch gedacht war, revolutioniert unsere Art zu kommunizieren und schwemmt unsere Gedanken und Bedürfnisse an die sichtbare Oberfläche. Unsere Verhaltensweise und unsere Lebenssysteme wie die Arbeitswelt werden hinterfragt und neu gedacht. Nur wenig beeinflusst unser Leben so stark und allumfassend wie unsere Arbeit. Von klein auf werden wir in Schulen auf unser Berufsleben vorbereitet, vieles ordnet sich diesem Ziel unter. Die Arbeit gibt unserem Leben einen Sinn, einen Grund am Morgen aufzustehen, eine Aufgabe. Mit der industriellen Revolution kam der der letzte grosse Strukturwandel. Seit einigen Jahren befinden wir uns in einem ähnlich fundamentalen Umbruch. Im Zentrum steht die simple Frage: Wie bin ich als Mensch wertvoll, für mich, mein Umfeld und die Gesellschaft?

Zwei Frauen, die etwas zu sagen haben

Unsere Podiumsdiskussionsteilnehmerinnen sind prädestiniert, diese Frage zu beantworten. Natalie Spross ist seit 2013 CEO der Spross-Gruppe und führt das über 125-jährige Familienunternehmen in fünfter Generation. In ihrer Rolle balanciert sie zwischen Tradition und Moderne. Es ist ihr ein erklärtes Anliegen, überholte Strukturen in der konservativen Baubranche aufzubrechen. Als Unternehmerin und Mutter zweier Kinder vollbringt sie einen Balanceakt. Ihre Gesprächspartnerin an diesem Montagabend ist Helena Trachsel. Sie leitet seit 2011 die Fachstelle Gleichstellung des Kantons Zürich. Zuvor war sie jahrelang als Head des Diversity-Managements, der Employee Relation und Task Force bei Swiss Re leidenschaftlich engagiert. Themen wie Chancengleichheit und Gerechtigkeit und die Kraft der gesellschaftlichen Kohäsion beschäftigen sie schon seit früher Jugend. Wie unterschiedlich ihre Herkunft auch sein mag: Was beide Frauen vereint, ist ihr pragmatischer und realistischer Ansatz, die Faktoren unseres Zusammenlebens zu analysieren und daraus Optimierungswege abzuleiten. Dabei steht der Mensch mit seinen Bedürfnissen für beide stets im Vordergrund.

Fünf Thesen beleuchten überholte Muster in der Arbeitswelt

An unserem diesjährigen Herbst-Apéro – Corona-bedingt zum ersten Mal im virtuellen Kleid – haben wir die Modernisierung unserer Arbeitswelt in den Fokus gerückt. Die knapp 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen an diesem Abend in den Genuss eines intensiven Austauschs mit klaren Antworten, moderiert von Thomas A. Biland. Fünf Thesen beleuchten einige Schauplätze der derzeitigen Veränderung und machen den aktuellen Wandel fühl- und greifbar.

  • BÜRGERLICHE GESELLSCHAFT VS. MODERNE, AGILE WELT

Das dominierende Geschlechter- und Familienmodell, definiert von der bürgerlichen Gesellschaft, prägt noch immer den heutigen Arbeitsmarkt.  Diese starre, teilweise längst überholte Rollenzuteilung passt nicht zu einer flexiblen, agilen und modernen Welt. Ein gesellschaftlicher Strukturwandel setzt die eigene Selbstreflexion und mutiges Handeln aller Beteiligten voraus. Helena Trachsel schätzt Skandinavien im Vergleich zur Schweiz als fortschrittlicher ein: «In unserem Land herrschen vermehrt noch alte Strukturen, während die Elternzeit beispielsweise im hohen Norden gerechter verteilt ist. Die Wahl wird der Partnerin und dem Partner überlassen. Das Momentum (Covid-19) könnte auch bei uns einen Kulturwandel auslösen». Auch Natalie Spross ist überzeugt, dass wir uns noch bewusster mit dem Rollenbild und der Frage, wer in der Partnerschaft «Vollgas» geben will, auseinandersetzen sollten.

  • VOLLZEIT-KARRIERE VS. TEILZEIT-LAUFBAHN

Wollen wir in den Führungsetagen tatsächlich eine faire Rollenverteilung erwirken, ist ein Sinneswandel unumgänglich. Seitens der Unternehmensführung (CEO und VR) müssen bewusst Karrieremöglichkeiten auch für Teilzeit-Pensen und somit die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, auch im Management, ermöglicht werden. Dies erfordert eine aktive und ernstgemeinte Förderung seitens der aktuellen Führungsriege. «Mache ich nur einen guten Job, wenn ich mindestens 80% arbeite», fragt Natalie Spross herausfordernd. Aus ihrer Sicht sind Aufgabenverteilung, Kommunikation und eine funktionierende Infrastruktur Voraussetzungen für ihre persönliche Teilzeit-Karriere. Helena Trachsel plädiert für eine Umverteilung, weg von einer Misstrauensgesellschaft, hin zu einer Vertrauenskultur mit einer Jahresarbeitszeit.

  • NEUES AKTIENRECHT

Im Juni verabschiedete das Parlament die Aktienrechtsrevision. Ziel ist ein attraktiver und moderner Unternehmensstandort Schweiz. Einer der umstrittensten Reformpunkte betrifft die Geschlechtervertretung – «Comply or Explain». Sind Mann und Frau nicht zu je 30% im VR oder 20% in der Geschäftsleitung vertreten, muss das Unternehmen diesen Umstand begründen. Diese Regel, die fünf, respektive 10 Jahre nach der Reform in Kraft tritt, soll die Rollenverteilung massiv ausgleichen. Aus Sicht von Natalie Spross ist das VR-Mandat prädestiniert für Frauen, handelt es sich doch um ein Teilzeit-Engagement. Eine wichtige Rolle kann hierbei der Mentor-Gedanke spielen. Geht es nach Helena Trachsel, sollten die Frauen vorerst Erfahrung und ein Netzwerk in der Geschäftsleitung sammeln. «Für den Mut zur Führung braucht es einen «Push» aus dem Elternhaus», ist sie überzeugt.

  • HOMEOFFICE VS. BÜRO

Homeoffice in einem sinnvollen Ausmass fördert die Arbeitszufriedenheit und beeinflusst die Verbindung zwischen «Beruf und Familie» positiv. Für ein Gelingen braucht es Vertrauen seitens des Managements und eine aktive Kommunikation, damit die Integration der Mitarbeitenden im Homeoffice mit dem Rest der Firma sichergestellt ist. Die aktuelle Ausnahmesituation hat es bewiesen: Homeoffice funktioniert! Doch nicht alle profitieren von dieser modernen Arbeitsform. In der Spross-Gruppe kann nur rund ein Drittel der Mitarbeitenden im Homeoffice arbeiten, da vor Ort mitangepackt werden muss. Für Natalie Spross ist es deshalb wichtig, allen Mitarbeitenden Vorteile zu ermöglichen. Ohnehin ist Homeoffice nicht die alleinige Lösung, weiss Helena Trachsel. Viel zu kurz kämen dabei der Teamgedanke und die gegenseitige Inspiration. Es brauche den physischen Austausch.

  •  ALTER KENNT KEINE GRENZEN

60 ist das neue 40! Was privat gilt, hat sich beruflich noch nicht durchgesetzt. Ältere und gleichzeitig agile Arbeitnehmende sollten problemlos länger dem Markt erhalten bleiben. Gemischte Teams leisten bekanntlich mehr, da die Kombination zwischen Erfahrung und Schnelligkeit einen ausgeglichenen Erfolg verspricht. Diese Modernisierung verlangt jedoch auch Lohn-Flexibilität und Entlastung der Sozialwerke – konkret: ab Alter 55 einen angemessenen Lohnrückgang. Auch «mit 65 in Pension» sollte zu Gunsten grösserer Flexibilität sowie aufgrund der erhöhten Lebenserwartung in Frage gestellt werden. Beide Frauen sprechen sich klar für ein flexibles und altersunabhängiges Engagement aus. Die Ausnahme bilden Aufgaben, in welchen der Körper stark zum Einsatz kommt. Helena Trachsel kann nicht verstehen, weshalb Unternehmen auf langjähriges Mitarbeiter-Knowhow verzichten.

Was bleibt ist der Mensch, nicht seine Leistung

Unabhängig von der Domäne in der Arbeitswelt, haben alle Themen etwas gemeinsam: den Menschen und seine Bedürfnisse. Natalie Spross bringt es auf den Punkt: «Jeder einzelne von uns sollte sich bewusst sein, dass sie oder er irgendwann ersetzt wird. Spätestens dann stellt sich die Frage, bin ich nur mein Job oder noch mehr»? Bisher war das Bild der Männer stets durch die Leistung im Beruf geprägt. Frauen hätten es da einfacher gehabt, da sie sich beispielsweise durch das Muttersein identifizieren konnten. Nach Ansicht der Geschäftsführerin werden Leistungen neu mit persönlichen Anliegen verbunden. Dadurch werden wir als ganzer Mensch wahrgenommen, neue Werte rücken ins Zentrum. Helena Trachsel stimmt diesen Gedanken zu und ergänzt, dass die Durchmischung im Team zum Erfolg führe. Nicht nur zwischen Generationen, sondern auch punkto Geschlecht und Herkunft. Jede und jeder von uns sollte mitbestimmen, politisch wie auch gesellschaftlich. Natalie Spross finalisiert: «Es ist Zeit, die alte Glaubens- und Rollenverteilung aufzubrechen»!

Hier können Sie die Podiumsdiskussion in voller Länge verfolgen (01:29:34)

WAS DIE VIRTUELLE PLATTFORM KANN, WAS NICHT
Das Format des virtuellen Austausches rückt die gesprächsführende Person in den Fokus. Im Gegensatz zu einem Sitzplatz weit hinten in einem übervollen Vortragssaal, ist dies ein Vorteil. Mimik und Aussprache werden nahbar und erkennbar erlebt. Allerdings ist der gewählte Ausschnitt begrenzt und oftmals mehr schlecht als recht ausgeleuchtet (hier und betreffend der IT empfiehlt sich eine sorgfältige Vorbereitung). Ein klares Gesamtbild bleibt mir als Zuschauer verwehrt. Ähnlich ergeht es der Gegenseite. Das Publikum präsentiert sich bestenfalls in quadratischen Schachteln; im Falle eines Webinars sieht man die Adressaten gar nicht. Das Gesprochene driftet in eine Leere und nur anhand der gleichbleibenden oder sinkenden Teilnehmerzahl kann das Interesse der Teilnehmenden abgeleitet werden. Als ausgleichende Gerechtigkeit können interaktive Teilnahmen und Fragerunden anonym durchgeführt werden, was Vielen entgegenkommt. Nicht oder nur gering wahrnehmbar sind dafür die Schwingungen im Raum, die Atmosphäre zwischen den Menschen.

FAZIT
Der Austausch über virtuelle Plattformen ist eine wertvolle Ergänzung, gerade in Zeiten von Corona, ersetzbar werden physische Treffen dadurch keinesfalls. Nicht zuletzt wegen dem nicht zu unterschätzenden Netzwerken.