Der alte Mann und sein Albtraum – eine kleine Geschichte über die Entmachtung der männlichen Managerkaste
Andreas H. findet sich in einem Albtraum wieder. Der erfolgreiche und frisch beförderte Manager wird überholt. Von Frauen. Und findet sich in einer Arbeitswelt wieder, in der nichts mehr ist, wie es war.
By Sabine Biland-Weckherlin für HR Today, Januar 2023
Andreas H., Anfang 50 und ein erfolgreicher Manager, macht sich bereit für die wohlverdiente Nachtruhe. Er ist zufrieden: Die heutige Beförderungsrunde ist für ihn reibungslos über die Bühne gegangen.
Auf seine Beförderung hat er denn auch gezielt hingearbeitet und jede Gelegenheit genutzt, um sich bei den richtigen Personen zu profilieren: An der Kaffeemaschine hat er sich zum richtigen Zeitpunkt strategisch positioniert, beim Feierabendbier geschickt politisch aufgestellt und in den entscheidenden Arbeitsgruppen war er prominent dabei. Auch seine Mitgliedschaft in der gleichen Rotary-Sektion wie der CEO und die gemeinsamen Golfpartien mit seinen Kader-Kollegen haben zum Erfolg beigetragen.
Karriere wie am Schnürchen
Seine aktuelle Stelle bei einem Schweizer Grossunternehmen verdankt er einem Vorgesetzten, der ihn «mitgenommen» hatte. Schon seit über 15 Jahren ist er hier und hat stets sein Bestes gegeben – in einem komfortablen Verhältnis von Aufwand und Ertrag.
Auch bei seinem vorherigen Arbeitgeber hat er 10 Jahre Sitzleder bewiesen. Es wäre ja auch fahrlässig gewesen, als junger Familienvater seine Privilegien – dickes Salär, Hypothekar-Vergünstigungen, Firmenauto – von sich aus aufzugeben.
Nach der Lehre verlief sein Berufsleben wie am Schnürchen: Via einen Kollegen aus der Dorfmusik fand er seinen Arbeitseinstieg und arbeitete sich über die Jahre stetig empor. Gut für ihn, klappte das alles ohne mühsame Weiterbildungen. Dass sein Französisch auf Schulabschluss-Niveau verharrte und seine EDV-Kenntnisse vor allem seiner Assistentin zu verdanken sind, stand seiner Karriere nie im Weg.
Überholmanöver von rechts
Andreas H. hat sich mittlerweile in einen tiefen Schlummer verabschiedet. Doch leider wird unser Protagonist genau heute von einem üblen Albtraum heimgesucht. Er ist wieder in seiner Firma, sitzt an einer Miniaturversion seines Pults. Und das nicht wie gewohnt in seinem repräsentativen Eckbüro, sondern in einem Grossraumbüro. Er sieht sich um und erblickt überall Leute in informeller Kleidung, viele junge Frauen und einige unschweizerisch aussehende Menschen.
Auf Rückfrage seiner mit Kopfhörern verdrahteten Büronachbarin erfährt er, dass diese 32 Jahre alt und viersprachig ist, ein Studium in Management mit einem Auslandsemester in London absolviert und zwei Kinder – zwei Kinder! – hat, ein Rennpferd besitzt und Teilzeit arbeitete. Sie leite das Legal-Team. Andreas H. ist sprachlos. Das kann doch nicht seriös sein – was wohl sein Chef dazu sagen würde? Eine andere Frau erklärt ihm auf Englisch, sie habe nach 10-jähriger Familienpause eine Weiterbildung in System Engineering abgeschlossen und arbeite nun Vollzeit im Unternehmen.
Autsch! Verlust der Vormachtstellung
Wo sind bloss seine Kollegen vom «Old Boys Club», wie sich er und seine neun langjährigen Kollegen des Kaderteams scherzhaft nennen? Sie sind doch eine eingespielte Truppe, die über die Jahre hindurch grundlegende Gruppenstärkung bewies und, mal formell, mal informell, die Geschicke der Firma lenkte! Sie pfadeten Beförderungen vor, prägten Lohn- und Bonusrunden und steuerten Neuanstellungen. Über die Jahre hatten sie glänzende Erfahrungen gemacht mit der Devise «Never change a winning Team». Und jetzt?
Andreas H. sieht sich um, auf der verzweifelten Suche nach einem bekannten Gesicht, das ihn anlacht und sagt, dass das alles nur ein schlechter Scherz ist. Doch kein bekanntes Gesicht weit und breit. Stattdessen tritt ein junges Geschöpf zu ihm, das sein Nachbarsmädchen hätte sein können, spricht ihn mit Du an – mit Du! – und stellt sich als Talent Development Manager vor. Sie wolle mit ihm über seine fachliche Weiterentwicklung sprechen. Dass er sich, abgesehen von ein paar wenigen internen Tageskursen nie weitergebildet habe, zeuge von mentalem Stillstand. Ob er noch nie etwas von lebenslangem Lernen gehört habe?
«Doch … doch!», antwortet Andreas H. stotternd. Hatte er nicht sein ganzes Leben hindurch sein Männernetzwerk gepflegt und getan, was alle taten – nämlich seine Position verteidigt, die Tageszeitungen gelesen und Kundenkontakte gepflegt? Und war er nicht von seinem Chef dafür Jahr für Jahr gelobt worden? Es hatte doch gar keine Veranlassung gegeben, aus der Komfortzone auszubrechen!
Der Horror ging weiter. In einem kurzfristigen Townhall Meeting erfährt Andreas H., dass sein langjähriger direkter Vorgesetzter, der verlässliche Schutzherr über seine Karriere, nächstes Jahr durch eine junge Frau – eine junge Frau! – abgelöst würde.
An diesem Punkt befürchtet Andreas H. eine gezielte Verschwörung gegen seine Person. Was würde als Nächstes passieren?
Die Angst vor der Entmachtung ist Albtraum genug
Doch mehr braucht es gar nicht. Allein die Vorstellung, seine Vormachtstellung zu verlieren, ist Albtraum genug für Andreas H. Seine Angst um den Status Quo steigert sich ins Unermessliche, während er den dicken Teppichboden unter seinen Füssen weggleiten sieht.
Was ist das für eine Welt, in der Frauen zur Konkurrenz werden und, schlimmer noch, das Sagen haben? Und was würde passieren, wenn Frauen sich künftig auch in Gremien drängten? Sie würden mit ihrem soften Getue die ganzen Führungsetagen verweichlichen. Männer könnten nicht mehr frei reden. Sie müssten Rücksicht nehmen auf politische Korrektheit. Sie dürften keine anzüglichen Witze mehr machen. Sie dürften irgendwann gar nichts mehr sagen. Niemand dürfte sich mehr irgendwie kritisch äussern. In einem, spätestens in zwei Jahren, fänden wir uns alle in einer Diktatur wieder und müssten dem kollektiven Zerfall unserer Gesellschaft machtlos zusehen.
Andreas H. erwacht. Gänzlich durcheinander und schweissgebadet, aber dankbar für die wiedergewonnene Realität. Er steht auf, fährt zur Arbeit und setzt sich in sein Eckbüro. Im Radio hört er wenig später, dass die SP für die anstehende Bundesratswahl nur weibliche Kandidatinnen, am liebsten Mütter – Mütter! – berücksichtigen will. Langsam, aber sicher fürchtet er um seine geistige Gesundheit. Was ist nur mit der Welt passiert?
Fazit: Lieber Herr H. …
Lieber Herr H. Es ist nur verständlich, dass Sie Albträume haben. Sie fürchten um Ihre Privilegien – und das zu Recht. Unsere Gesellschaft und damit auch unsere Arbeitswelt befindet sich im Umbruch, und für Sie kann das unbequem werden.
Kann es sein, dass Sie es sich ein bisschen zu gemütlich gemacht haben in Ihrem «Old Boys Club»? Dass Sie sich etwas zu sicher gefühlt haben mit Ihren Privilegien? So sicher, dass Sie diese gar nicht als Privilegien, sondern als ganz normalen Status Quo ansahen? So sicher, dass Sie dachten, Sie müssen sich nicht beruflich weiterentwickeln? So sicher, dass Sie sich nicht vorstellen konnten, irgendwann von gut ausgebildeten, jungen Frauen rechts überholt zu werden?
Es ist kein Geheimnis, dass Sie zu den Gewinnern des bisherigen Status Quo gehörten. Ergo ist es auch logisch, dass Änderungen an diesem nicht zu Ihren persönlichen Gunsten ausfallen. Und das selbst dann, wenn es sich bei diesen Änderungen nicht um den «Woke-Wahnsinn» handelt, den manche Medien so gern proklamieren.
Einfaches Beispiel: Es gibt in der Schweiz nur eine begrenzte Anzahl von Führungspositionen, und wenn diese bisher nur mit Männern, neu aber auch mit Frauen besetzt werden, ist da automatisch weniger Platz für Männer. Auch wenn die Auswahlverfahren zu 100 Prozent fair ablaufen sollten.
Wenn der Status Quo also unfair war und Sie davon profitierten, ist es nur verständlich, dass Sie sich bei jedem Schritt in eine fairere Richtung als Verlierer fühlen. Ausser natürlich, sie behalten das grosse Ganze im Blick und lesen nicht nur die Aufreger-Artikel in der «Weltwoche» und Co., sondern beispielsweise auch die Studien, die belegen, dass Vielfalt in den Führungsetagen zu besseren Entscheidungen, mehr Leistung, mehr Umsatz und einer besseren Aussenwahrnehmung von Unternehmen führt.
Was sagen Sie? Sie haben bei «Woke-Wahnsinn» aufgehört zu lesen? Nein, es liegt uns fern, zu behaupten, den gebe es nicht. Und tatsächlich hatten auch wir in unserem Berufsalltag schon mit männlichen Bewerbern zu tun, die überzeugt waren davon, dass sie eine Position nur deshalb nicht bekommen haben, weil das Unternehmen lieber eine Frau einstellte – vor allem in Bereichen wie Human Resources, Marketing, oder Legal. Dies mag mit teilweise scheinheiligen Quotenvorgaben zu tun haben oder, ganz ehrlich, mit schwächerem Leistungsausweis der männlichen Bewerber. Die «Bilanz» berichtete jüngst in einem mehrseitigen Artikel von Fällen, in denen Männer durch die Gleichstellung ihre Karriere gefährdet sahen.
Lieber Herr H., zuweilen schwenkt das Pendel, sei es aus Übereifriger oder aus gefühltem Kompensationsbedarf, tatsächlich von einem Extrem ins andere. Leider. Denn wir finden: Künftig sollen weder nur Männer noch nur Frauen das Sagen haben. Wir plädieren für echte Gleichstellung und gelebte Diversität im Sinne der fähigsten Person am passenden Ort.
Und es gibt noch ein Grund, lieber Herr H., warum wir die bewusste Bevorzugung von Frauen in Führungspositionen nicht gut finden. Und der sind Sie. Denn wir wissen, dass Aussagen wie «Diese Stelle wollen wir mit einer Frau besetzen» Sie nur noch mehr bestärken in Ihrem Glauben, zu den Verlierern der Veränderung zu gehören. Und für einen gesellschaftlichen Wandel, der unserer Meinung nach dringendst nötig ist, brauchen wir alle. Auch Sie.
Wie nehmen Sie die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt wahr? Lassen Sie es uns wissen in einem Kommentar.