von Dr. Thomas A Biland
Blicken wir zurück, so erkennen wir in der Finanzkrise von 2008 und der nachfolgenden Digitalisierung zwei wesentliche Ereignisse, welche einen grossen Einfluss auf das Recruiting und damit das HR-Management haben. Die Finanzkrise brachte für viele Menschen das Bild einer sich stetig verschuldenden und dennoch wachsenden Wirtschaft ins Wanken und erschütterte den Glauben an ein stabiles Finanzsystem. Absolute Risikovermeidung, Kostenreduktion und -kontrolle wurden zur obersten Maxime und führten zu vermehrter Kontrolle sowie Entlassungen. Die danach einsetzende Digitalisierung verstärkte diese Effekte und stellte in vielen Branchen langjährige Gepflogenheiten in Frage. Disruptive Geschäftsmodelle definierten Verhaltensweisen und Paradigmen neu und führten über den Einsatz von innovativen Technologien zusätzlich zu Arbeitsteilung. Dies wiederum führte zu einem seit der Finanzkrise zunehmenden Micromanagement vieler Vorgesetzten. Gleichzeitig veränderten sich die Anforderungsprofile vieler Funktionen ebenso wie die Erwartungen der Generationen Y und Z. Diese sind aufgrund der am Arbeitsmarkt gemachten Erfahrungen viel opportunistischer resp. situativer unterwegs – was wiederum von Seiten der Traditionalisten im HR mit grossem Argwohn beurteilt wird.
Alles zusammen führte letztlich dazu, dass Stellenprofile immer enger wurden, Generalisten über Nacht quasi an Wert verloren und in den Firmen die Vorstellung wuchs, dass mit den neuen IT-Tools ein unendliches Reservoir an Führungskräften und Fachspezialisten beinahe gratis zu haben sei. Dass dies nur eine Seite der Medaille ist, erkennen einige bis heute nicht. Für die Bewerber führte dies einerseits zur Erkenntnis, dass gutes Selbstmarketing keine Grenzen kennt (bis zur Unleserlichkeit aufgeblähte Linkedin- und XING-Profile lassen grüssen), anderseits die Nachhaltigkeit vieler Stellen nicht mehr im früheren Ausmass gegeben ist. Während Stellenprofile von Begriffen wie unternehmerisch», «Macher», «Werte», «Teamorientierung» und «Nachhaltigkeit» triefen, ist von Mitarbeitenden von «Micromanagement», «Veränderungsresistenz», «Kadavergehorsam», «Ja-Sager-Kultur» und «Kurzfristigkeit» die Rede. Langfristigkeit scheint es nur noch in Firmenbroschüren zu geben. Ansonsten hat sich das angelsächsische Kurzfristdenken durchgesetzt. Burn-outs, demotivierte Mitarbeitende, mangelnde Identifikation mit der Firma und deren Zielen, steigende Fluktuation usw. nimmt man zur Kenntnis und entgegnet diesen Trends mit verstärkter Zentralisierung, zusätzlichem Einsatz von «Tools» und der Verlagerung von einst zentralen HR-Funktionen in Billiglohnländer. Es ist wie mit den Lemmingen: Macht es einer, machen es alle – unabhängig ob es funktioniert. Dass mit den wenigsten dieser Massnahmen das wirkliche Problem gelöst wird, steht auf einem anderen Blatt. Letztlich erscheinen die Kosten der meisten dieser Massnahmen ohnehin nie in einer Bilanz- und Erfolgsrechnung und sind daher für die Unternehmensführungen tendenziell irrelevant. Dabei sind sie langfristig für den Erfolg eines Unternehmens zentral.
Letztlich bringen gute Ideen, technologische Innovationen sowie ein Miteinander von Menschen Unternehmen voran. Dazu braucht es die richtigen Persönlichkeiten am richtigen Ort. Nur wenn diese als Ganzes bis zu einem gewissen Grad harmonieren, können sich langfristig nachhaltige Erfolge einstellen. Daher plädiere ich für ein verstärktes Augenmerk auf die Persönlichkeit anstatt ein reines Fokussieren auf buzzwords und passgenauer Erfahrung innerhalb der CVs. Hier stelle ich auch den grössten Unterschied zwischen eher patronal geführten KMU und Manager getriebenen Konzernen fest. Unternehmer entscheiden oft auch mit dem Bauch, die Langfristigkeit vor Augen, während Manager tendenziell eher kopfgetrieben argumentieren und an den nächsten Quartalsabschluss denken. Beides hat Platz, aber letztlich ist es eine Frage der Werte und Perspektive.
Dieses Vorgehen verlangt jedoch zwingend die aktive Einbindung der Linie in den Suchprozess – nicht erst gegen den Schluss, sondern von Anbeginn an. Das HR soll dabei eine wesentliche Rolle, im unterstützenden Sinne, spielen. Gerade im Rahmen der Digitalisierung ist das HR gefordert und kann wesentlich zum Unternehmenserfolg beitragen. Es hat auch die einmalige Chance, seine Rolle neu zu definieren und den Stellenwert zu erlangen, den es eigentlich verdiente. Dafür braucht es vertiefte Kenntnisse des Unternehmens, eine grosse Nähe zum Management sowie eine kommunikationsstarke Persönlichkeit. HR und Unternehmensführung sollten Hand in Hand arbeiten und es ist die Linie, welche den Personalentscheid zu fällen hat, denn sie trägt letztlich die Verantwortung und hat die Folgen von Fehlbesetzungen zu tragen.
Risikovermeidung ist eine notwendige Verhaltensweise in einer durch Unsicherheit und disruptive Tendenzen gezeichneten Wirtschaft. Das ausschliessliche Fokussieren auf enge und mit den entsprechenden Schlagwörtern versehene Kandidaten schliesst von Anbeginn an unorthodoxe Bewerber aus, die aufgrund ihrer Persönlichkeit für das Unternehmen interessant sein könnten. Dies mag kurzfristig opportun sein – langfristig orientiert sich diese Art der Personalsuche hingegen nicht an den möglichen Opportunitäten, denn sie läuft Gefahr, diese zu verpassen. Veränderungen werden letztlich von Persönlichkeiten getragen.
Es ist verständlich, dass HR-Abteilungen sich in Personalsuchen mit Algorithmen und buzzwords absichern wollen. Letztlich ist es aber nur eine Scheinsicherheit und delegiert quasi die Verantwortung bei Fehlbesetzungen an die Systeme. Die wirklich sensitive und für das Unternehmen wichtige Aufgabe nehmen derart agierende HR-Abteilungen jedoch nicht wahr: das Finden von «hidden gems». Diese aufzuspüren wird in Zukunft für den langfristigen Erfolg noch entscheidender sein. Auf absehbare Zeit kann dies nicht wirklich durch Algorithmen erfolgen – hierzu braucht es Empathie, Lebenserfahrung und ein treffsicheres Gespür.