Während ich diese Zeilen verfasse, lassen sich die Auswirkungen der Corona-Krise für Wirtschaft und Gesellschaft noch nicht abschätzen. Fest steht: Was gestern noch realitätsfremde Science-Fiction-Inszenierung zu sein schien, ist heute Alltag. Doch wie es bekanntlich in jedem Dunkel ein Licht gibt, lässt sich trotz aller dramatischen Umwälzungen auch im Arbeitsleben zumindest eine kleine, aber positive Tendenz feststellen – finde ich.
Vor Ausbruch der Pandemie hat sich manch ein Arbeitgeber noch standhaft dagegen gewehrt, seinen Leuten flexiblere Arbeitsformen zu ermöglichen. Heute ist dieser Wunsch vieler Arbeitnehmer krisenbedingt innerhalb kürzester Zeit nicht nur Realität, sondern zum Gebot geworden.
Bis Mitte März gab es für Vorgesetzte noch jede Menge Gründe, weshalb Homeoffice nicht möglich sei. Von Vorbildfunktion gegenüber Kollegen war die Rede, von der Statthalterfunktion der Assistentin, dem Sicherheitsrisiko im Umgang mit sensiblen Daten oder der erforderlichen täglichen Nähe zum Team … den Argumenten schienen kaum Grenzen gesetzt.
Als Personalvermittler stellten wir in den letzten Jahren aber vermehrt den Wunsch nach flexiblen Arbeitsformen fest. Während Kandidatinnen und Kandidaten bei einzelnen Arbeitgebern damit zwar offene Türen einrannten, stiessen viele mit diesem Wunsch auf vehement taube Ohren. Erstaunlich dabei war die Tatsache, dass selbst der erlebte Fachkräftemangel nichts an der Verweigerungshaltung änderte. Auch wir Berater bissen mit unseren Plädoyers für mehr Flexibilität meist auf Granit – und verloren dadurch leider den einen oder anderen vielversprechenden Kandidaten. Mit einem lakonischen «Ja nu!» seitens Arbeitgeber waren diese Personen kurzerhand aus dem Rennen.
Seit Mitte März gelten übergeordnete Ziele anstelle von Partikularinteressen. Ob gewisse Vorgesetzte weiterhin Vorbehalte gegenüber Homeoffice hegen oder einzelne Mitarbeitende den täglichen Gang zur Arbeit der Remote-Tätigkeit gegenüber bevorzugen – das alles spielt aktuell keine Rolle mehr.
Friss oder stirb!
Der Corona-Notstand stellt uns alle vor massive existentielle Herausforderungen und erfordert ein radikales Umdenken. Im Sinne von «friss oder stirb» sehen wir uns in rasantem Tempo einem Kulturwandel ausgesetzt, der bisherige persönliche, technische oder firmenkulturelle Hürden niederreisst.
Je anpassungsfähiger und innovativer sich Arbeitgeber und Mitarbeitende gegenüber den aktuellen Gegebenheiten zeigen, desto grösser ist die Chance des wirtschaftlichen Überlebens. Die temporäre Wiedereinstellung pensionierter Mitarbeitender bei der Schweizer Interroll-Gruppe im Tessin – um personelle Ausfälle zu überbrücken – ist ein weiteres Beispiel von innovativen Lösungen in der Stunde der Not.
Die Corona-Krise bricht verhärtete Krusten auf
Das Virus macht scheinbar Unmögliches auf einen Schlag möglich: Vergleichbar mit einer Domino-Reihe, hat einer nach dem andern – wo es die Arbeit zulässt – in den letzten zwei Wochen ins Homeoffice gewechselt. Arbeitnehmer wurden stabsmässig mit Laptops und Tablets ausgestattet, fehlende elektronische Zugänge und Passwörter im Nu erteilt und Videokonferenz-Programme heruntergeladen.
Wo es für einige Arbeitgeber bis vor Kurzem noch Tabu war, ihren Leuten einen VPN–Zugang für die Arbeit zuhause zu geben, macht Corona dies von einem Tag auf den anderen möglich. Alle Achtung den IT-Spezialisten für ihre anspruchsvolle Krisenbewältigung. Einmal installiert, werden sich mobile Technologien hoffentlich zwischenzeitlich breitflächig etablieren und sich auch weiterhin als Segen für die Arbeitswelt erweisen.
Mikromanager haben es schwer …
Laut Wolf Rössler sind «viele Arbeitgeber misstrauisch und kontrollieren die Mitarbeitenden; sie fragen sie alle drei Stunden, was sie erledigt haben». (NZZ am Sonntag vom 22. März 2020) Solche Vorgesetzte haben keine Wahl, als die aktuelle Krise als Übungsfeld zur Beseitigung ihres Kontrollwahns zu nutzen. Denn dieser ist für alle Seiten hinderlich und bindet unnötige Energien und Ressourcen.
Natürlich wird es unter den remote-tätigen Arbeitnehmern auch schwarze oder zumindest graue Schafe geben, die es mit der Eigenverantwortung nicht so genau nehmen. Dies ist aber auch eine Chance, die Spreu vom Weizen zu trennen. Und bei zukünftigen Rekrutierungen vermehrt auf die geforderten «modernen» Skills der Zukunft zu achten.
Frühere Mikromanager werden hoffentlich während der Dauer der Krise ihre Mitarbeitenden neu schätzen lernen und erkennen, dass alleine das Resultat zählt – egal, ob es die Frühaufsteherin im Morgengrauen am Küchentisch erbringt oder der Nachtvogel zu fortgeschrittener Tageszeit im Armstuhl.
… genauso wie unflexible Mitarbeitende
Auch Angestellte, die sich bislang mit technologischen Neuerungen in ihrem Arbeitsalltag schwergetan haben, werden nun über ihren Schatten springen müssen. Damit sind übrigens bei Weitem nicht nur ältere Mitarbeitende gemeint! Videomeetings per Skype, Zoom, Microsoft Teams – ein Umdenken und das Aufspringen auf den Zug technologischer Errungenschaften sind das Gebot der Stunde.
Natürlich ist es schöner, das Znünigipfeli gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen zu essen – doch Corona-bedingt haben vermutlich auch virtuelle Kaffeepausen ihren Reiz? Der geltende Notstand setzt nicht nur spezielle Anforderungen wie Improvisationsvermögen voraus, sondern bietet auch ungeahnte kreative Möglichkeiten des Experimentierens.
Natürlich macht es einen grossen Unterschied, ob das Verlagern des Arbeitsplatzes in die eigenen vier Wände fremdauferlegt oder selbstbestimmt ist. Doch die Corona-Krise zeigt, dass es meistens möglich ist. Und dass wir die Herausforderungen, die flexible Arbeit mit sich bringt, meistern können.
Zeitenwende in Sicht
In der Verschlankung bestehender Prozesse, im Überdenken aufwendiger Abläufe und langwieriger Sitzungen zeigen sich unter anderem die praktischen Vorzüge des Internets. Von der Entlastung des täglichen Pendelstresses und der Reduktion kostspieliger, umweltbelastender und oft auch unnötiger Geschäftsreisen ganz zu schweigen.
Das Coronavirus schafft hoffentlich dauerhaft neue Strukturen. Meiner Meinung nach gibt es nach Abklingen der Krise keinen Weg zurück. Wenn die letzten Bastionen des Widerstands gegen moderne Arbeitsformen dauerhaft fallen, bricht ein neues Zeitalter an.
Das bedeutet: Bahn frei für New Work! Unternehmen werden vermehrt in technische Lösungen und Geräte investieren müssen, um mobiles Arbeiten effizient und dauerhaft zu ermöglichen.
Soziale Interaktion mehr schätzen
Wer weiss, vielleicht schätzen wir – im Zuge neuer Arbeits- und Kommunikationsformen – sogar künftig die soziale Interaktion im Büro wieder vermehrt? Und begrüssen nebst Open-Space-Offices und Coworking-Spaces die gelegentliche Chance des modernen, privateren Arbeitens zuhause? Denn natürlich kommt es auf einen gesunden Mix zwischen Büropräsenz und digitaler Arbeit an, der sich ja nach der Krise hoffentlich bewerkstelligen lässt.
Vielleicht honorieren Vorgesetzte sogar die Loyalität ihrer Assistenten vermehrt mit Wertschätzung, wo sie diese bislang für selbstverständlich gehalten haben? Vielleicht lassen sich durch individualisierte Arbeitsmöglichkeiten möglicherweise tägliche Spannungen am Arbeitsplatz aufweichen?
Die durch das Coronavirus entfachte Dramaturgie stellt uns alle auf persönliche Weise vor grundlegende Veränderungen. Viele davon sind leider negativ. Jene des selbstbestimmten Arbeitens ist aber positiv. Mehr Eigenverantwortung auf Mitarbeiterseite bringt vermutlich eine höhere Motivation mit sich, was sich wiederum im Geschäftserfolg niederschlagen wird. Die neu entdeckten arbeitstechnischen Freiheiten können, positiv gestaltet, ein ungeheures Potential im Humankapital einer Firma bedeuten.
Auf dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer diese Veränderungen nicht als Bedrohung werten, sondern als sinn- und wertvolle Früchte digitaler Technologien erkennen.