Skip to main content

 

HR Today Nr. 11/2017: Digitalisierung, von Joël Luc Cachelin

Die digitale Transformation ist mehr als nur das Verwandeln von Papier in PDFs. Wir haben es mit einem tiefgreifenden Strukturwandel von Wirtschaft und Gesellschaft zu tun, der erst gerade begonnen hat. Unternehmen – und mit ihnen das HR – müssen sich sehr grundsätzliche Fragen stellen.

  1. Die digitale Transformation ist eine Glaubenssache.

Je mehr wir uns mit der Digitalisierung beschäftigen und je stärker sie unsere Leben auf den Kopf stellt, desto mehr stossen wir unverhofft auf philosophische, wenn nicht gar metaphysische Fragen. Letztlich konfrontiert uns die Digitalisierung mit der Frage, was der Mensch in einer Zukunft der Netzwerke, Daten und Maschinen sein soll. Kaum erstaunlich, gibt es unterschiedliche Meinungen darüber, ob das Digitale unser Leben besser oder schlechter macht und ob dessen Chancen oder Risiken überwiegen. Je weiter die Entwicklungen in der Zukunft liegen, desto schwammiger werden die Szenarien, desto unklarer die Folgen der neuen Technologien – gerade der künstlichen Intelligenz. Wenn wir aber nicht wissen und nur glauben können, lohnt es sich, über die Propheten und Kirchen nachzudenken, die uns mittels Digitalisierung ins gelobte digitale Land führen wollen.

  1. Die digitale Transformation ist tot – es lebe die Transformation.

Kaum eine Konferenz, kaum ein Sonderheft, die oder das sich gegenwärtig nicht mit der Digitalisierung beschäftigt. Das zeugt genauso von der hohen Bedeutung des Themas, wie es auch ein baldiges Ende des Hypes ankündigt. Die Digitalisierung deshalb als kurzfristige Modeerscheinung abzutun, ist indes gefährlich. Denn die Vernetzung, die Komplexitätssteigerung, die Verlagerung in den digitalen Raum und die Fortschritte der Maschinen werden anhalten. Gleichzeitig reicht es nicht mehr, allgemein von Transformation zu sprechen, vielmehr müssen Verantwortliche klarer definieren, welchen Aspekt der Digitalisierung sie meinen. Aus HR-Sicht geht es zum Beispiel um die Plattformwirtschaft, steigende Datenmengen oder Netzwerkorganisationen. Nachdem wir viel debattiert haben, wird es nun Zeit, die Betriebssysteme von Gesellschaft und Unternehmen tatsächlich zu transformieren.

  1. Organisationen schrumpfen im Streben nach Agilität auf ihren Kern.

Die Wirtschaft der Netzwerke bringt die Notwendigkeit mit sich, agiler zu werden– also schlank, schnell und anpassungsfähig. Buchhalterisch entspricht dies Eingriffen in Bilanz und Erfolgsrechnung. Unternehmen wollen ihre Fixkosten und ihr Anlagevermögen reduzieren. Dies offenbart, warum die Digitalisierung ein Effizienzprogramm ist und warum man neue Organisationsformen nicht als naives Hippiegeschwätz abtun kann. Im Streben nach Agilität schrumpfen Unternehmen auf diejenigen Mitarbeitenden, die für die Identität besonders wichtig sind. Nämlich diejenigen, die über strategisch relevante (also schwer imitier- und beschaffbare) Fähigkeiten verfügen und die wichtige Schnittstellen (zu Kunden, Lieferanten und Politik) besetzen. Die Schrumpfung betrifft auch das HR. Man wird sich verstärkt mit Kernfähigkeiten, Rollen, Schnittstellen und Automatisierungspotenzialen auseinandersetzen müssen.

  1. Die Zukunft ist bimodal, die Synchronisation der Modi bleibt vorerst ungeklärt.

Mit dem «Run»- und «Change»-Modus lassen sich Tätigkeiten einer Organisation unterscheiden, die einerseits auf das Tagesgeschäft und andererseits auf die Selbsterneuerung abzielen. Im Change-Modus werden neue Märkte erschlossen, Geschäftsmodell und Selbstverständnis neu definiert. Von heute auf morgen werden sich wenige Unternehmen radikal verändern. Der Run-Modus bringt für viele – gerade für Führungskräfte über 40 – Stabilität und Sicherheit. Zudem garantiert er Arbeitsplätze für geringer Qualifizierte und weniger Kreative. Die sofortige Eliminierung von Hierarchien und Abteilungen würde eine Organisation wohl an den Rand des Chao­s führen, insbesondere weil viele Menschen nicht gelernt haben, ihre Freiheiten zu nutzen und selbstverantwortlich zu handeln. Während die Bimodaliät weitgehend unbestritten ist, bleibt die Synchronisation der Modi ungelöst. Es ist offen, wie die richtigen Projekte in die Zukunftslabore gelangen und wie deren Erkenntnisse wieder Teil des Tagesgeschäfts werden.

  1. Technologischer Wandel bedingt strategische Personalplanung.

Technische, wirtschaftliche und soziale Vernetzung provozieren noch mehr Vernetzung. Viele Geschäftsmodelle sind bedroht, jedes Unternehmen muss sorgfältig prüfen, welche Technologien entweder bedrohlich werden oder aber eine grundsätzliche Erneuerung von Prozessen und Produkten beziehungsweise eine Verschiebung im Wertschöpfungsnetz erlauben. Für viele werden Blockchain, künstliche Intelligenz, Big Data oder das Internet der Dinge eine Rollen spielen. Aber auch die Sharing Econonomy und die Plattformwirtschaft wirken disruptiv. Nun kann man in einem «Future Back»-Ansatz versuchen zu antizipieren, welche Fähigkeiten gefragt sein werden. Doch was passiert, wenn man heute nicht wie in zehn Jahren Geld verdient? Das könnte zu einer Neuausrichtung der strategischen Personalplanung führen. Mit dem «Present-Forward»-Ansatz schaffen Arbeitgeber ein Umfeld, in dem sich Mitarbeitende möglichst gut entfalten können.

  1. Menschenbilder prägen den Umgang mit Veränderung.

Die gegenwärtigen Change-Projekte stossen an Grenzen, wenn die vorherrschenden Menschenbilder nicht deckungsgleich mit denjenigen des antizipierten Zielbildes sind. Differenzen zeigen sich häufig in Führungs- und Steuerungssystemen. Unternehmen möchten sich in die Richtung von agilen, selbstorganisierten, lernenden Systemen bewegen. Gleichzeitig dominiert häufig die Vorstellung eines faulen und unselbständigen Menschen. Führungskräfte trauen es ihren Leuten deshalb oft nicht zu, Entscheidungen zu treffen, oder befürchten, diese würden im Home Office nur Skirennen schauen und Rasen mähen. Wollen Manager ihre Systeme tatsächlich Richtung Agilität bewegen, kommen sie nicht darum herum, selbst Kontrolle und Macht abzugeben oder auch Unsicherheit und Schwächen einzugestehen.

  1. Kontrollverlust folgt auf Agilität – auf allen Hierarchiestufen.

An der Basis fürchtet man sich davor, durch eine Maschine ersetzt zu werden. Das mittlere Management erkennt, dass es mit den gegenwärtigen Rollen in einer Netzwerkorganisation nicht mehr gefragt sein wird. Das Topmanagement wiederum weiss, dass es nicht mehr weiss, wie die Zukunft sein wird. Es verliert die Statussymbole, mit denen es sich früher definiert und die eigene Identität geschützt hat: Firmenwagen, Einzelbüro, Sie-Kultur, Krawatte, Wissen. Dem Kontrollverlust ist nur durch eine Intensivierung der Selbstreflexion zu begegnen – dies wiederum auf allen Hierarchiestufen. Mit dem Kontrollverlust umgehen zu lernen, kann bedingen, diesen situativ bewusst zu verstärken. In der Weiterbildung der Zukunft werden Mitarbeitende an ihre Grenzen geführt – auch jene ganz oben auf der Hierarchieleiter – und aufgefangen, sollten sie fallen.

  1. Die lernende Organisation feiert ein Comeback.

In einem Umfeld der permanenten Veränderung, der schrumpfenden Margen und der unerwarteten Markteintritte aus fremden Branchen ist die Lernfähigkeit eines Unternehmens ein entscheidender Erfolgsfaktor. Kaum erstaunlich, kündigt sich das Comeback der lernenden Organisation an. Ziel ist der lernende Organismus, der sich mittels Feedbackschlaufen scheinbar mühelos an seine Umwelt anpasst. Im Unterschied zu früher kennt man heute die Datenhöfe des Wissensmanagements. Die Personalentwicklung thematisiert stärker die Verlagerung des Mindsets und es stehen Daten in Hülle und Fülle zur Verfügung. Diese zeigen nicht nur den Zustand und die Entwicklung einer Organisation (ihre Produkte, Fähigkeiten, Prozesse und Beziehungen). Sie bieten auch neue Möglichkeiten, um Mitarbeitende zu segmentieren. Wichtiger als das Alter und die Führungsstufe ist die Position im Netzwerk oder die digitale Affinität.

Fazit

Ausgehend von diesen Thesen stellt sich nun natürlich die Frage, was davon für HR relevant ist. Dabei befindet sich das Personalmanagement in einer doppelten Transformation. Zum einen fühlt es sich für die Veränderungsfähigkeit seiner Organisationen verantwortlich. Zum anderen befindet sich HR natürlich selbst in einer Transformation. In dieser Situation rücken zwei Aufgaben in den Vordergrund: einerseits das Change Management, anderseits das Skill Management – wobei die Lösungen der Vergangenheit in diesen Aufgaben nicht diejenigen der Zukunft sein werden. Zudem sollte HR die Aufgaben zuerst auf sich selbst anwenden, will es einen Mehrwert für die Organisation liefern.

Dabei wird man auch Altes fallen lassen müssen, was nicht mehr zur Wirtschaft der Netzwerke passt. Zum Alten gehören MbO, jährliche Qualifikationsinstrumente, Stellenbeschreibungen, Mitarbeiterbefragungen der alten Schule, Arbeitszeugnisse und Lohnausweise auf Papier. Wenn sich die wirtschaftlichen Strukturen grundlegend verändern, werden auch die Strukturen von HR unter Druck geraten.

Wenn über die Zukunft von HR nachgedacht wird, stellt man sich häufig Unternehmen ohne HR vor. Hilfreicher wäre es vielleicht, sich eine Zukunft mit HR, aber ohne Unternehmen vorzustellen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Skill Management nicht über die Grenzen von Unternehmen hinweg passieren sollte.

Dabei werden sich die entstehenden Plattformen entweder an den Bedürfnissen der Arbeitgeber oder aber der Arbeitnehmer ausrichten. Arbeitgeber werden auch in Zukunft Unterstützung in der Antizipation des Skillshifts, der Potenzialentfaltung und im Matching von Aufgaben und Fähigkeiten brauchen. Wissensnomaden dagegen werden dankbar auf HR-Agenturen zurückgreifen, die ihnen Möglichkeiten aufzeigen, wo und wie sie arbeiten, sich entwickeln und entschleunigen können.