Herbst-Apéro 2022 – LGBTQI, Political Correctness und die Realität am Arbeitsmarkt
Die Debatte zur Geschlechtsidentität spaltet die Gemüter. Weshalb eigentlich? Wir wollten es genauer wissen und luden vier Fachspezialist:innen zu unserem traditionellen Herbst-Apéro ein. Den erhaltenen Antworten dürften auch hartgesottene Kritiker:innen etwas abgewinnen.
By Bernie Tewlin, November 2022
An polarisierenden Themen mangelt es zurzeit nicht. Zahlreiche Gruppierungen kämpfen für mehr Gehör und Gerechtigkeit. Von den einen getragen, von den anderen verschmäht entstehen bisweilen hitzige Diskussionen. Weshalb diese Zunahme? Die einfachste Erklärung ist, dass die digitalen Kanäle jederfrau und jedermann eine Plattform für ihr:sein persönliches Thema liefern. Ist daran etwas falsch? Nein, solange dahinter das persönliche Bedürfnis nach Wertschätzung, Anerkennung und Gleichheit im Zeichen einer fairen Gesellschaft steht.
Gemäss aktuellen Umfragewerten sind in den USA ¼ der Menschen nicht hetero und McKinsey bestätigte unlängst, dass Unternehmen mit gelebter Diversität erfolgreicher sind. Eine treibende Kraft für die individuellen Bedürfnisse ist der vorherrschende Fachkräftemangel. Der Wettbewerb um Talente verschafft den Arbeitnehmenden Gehör und nie dagewesene Freiheiten und zwingt Unternehmen zu Toleranz – auch im Interesse des eigenen wirtschaftlichen Erfolges. Zugegeben, manch eine:r kann sich von der Vielschichtigkeit an Themen überfordert oder in die Ecke gedrängt fühlen. Entscheidend ist, einen kühlen Kopf zu bewahren und konstruktiv aufeinander zuzugehen. Im gegenseitigen Verständnis, dem Blick für andere, dem Dialog und der Toleranz liegen die Lösungen. Die Folgen von Intoleranz erkennen wir leider derzeit in Osteuropa.
Unsere Podiumsgäste
Claudia Ciullo, bezeichnet sich als Weltbürgerin. Als «Italienerin» in der Schweiz hat sie in ihren Kinderjahren erfahren, was Ausgrenzung heisst. Genau deshalb setzt sie sich für mehr Diversität und Inklusion ein. Sie ist überzeugt, dass beide Themen eine enorme Energie freisetzen und Innovation dank unterschiedlicher Perspektiven ermöglichen.
David Reichlin, ist seit zwei Jahrzehnten ehrenamtlich in der LGBTQI-Community aktiv. Seit dem Frühjahr 2016 ist er im Vorstand von Pink Cross, wo er 2017 ins Co-Präsidium gewählt wurde. Des Weiteren ist David seit dem Jahr 2010 im Vorstand des Zurich Pride Festival. Beruflich ist er im Bereich Diversity & Inclusion der Würth-Gruppe tätig.
Jill Nussbaumer, macht sich für Freiheit, Fortschritt und Diversität stark. Beruflich ist sie als Business Analyst im Bereich FinTech tätig und engagiert sich politisch im Zuger Kantonsrat und als Vizepräsidentin der Jungfreisinnigen Schweiz. Als Vorstandsmitglied von Queer Zug sowie FDP Radigal organisiert Jill LGBTQI-Treffs in ihrer Region und bringt gesellschaftspolitische Themen auf die liberale Agenda
Anna Rosenwasser, arbeitet als LGBTQI-Expertin, feministische Autorin und Polit-Influencerin. Davor war sie vier Jahre lang Geschäftsführerin der Lesbenorganisation Schweiz (LOS) und ist seit 2008 als freischaffende Journalistin tätig. Anna schreibt regelmässige Kolumnen, führt Workshops und Referate zu queerfeministischen Themen durch und leitet einen der erfolgreichsten feministischen Kanäle auf Instagram
Moderation: Dr. Thomas A. Biland
LGBTQI-Diskussion: Hype oder Notwendigkeit?
Thomas: Die Diskussion über die Berechtigung von LGBTQI-Themen und Ansprüchen verläuft in der Gesellschaft durchaus kontrovers. Welche Relevanz hat das Thema für unsere Podiumsteilnehmenden?
Anna: Nehmen wir das Beispiel der Linkshänder:innen. Erst nach der Zulassung mit der angeborenen Schreibhand zu agieren, war für die Masse die Notwendigkeit erkennbar.
Claudia: Ohne Diskurs und Präsenz wird ein Thema nicht zur Realität.
Jill: In den Ländern mit freier Geschlechtsidentität ist die Sichtbarkeit höher.
David: In Ländern, in welchen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare möglich ist, ist die Suizidrate von Queer-Jugendlichen massiv tiefer.
Thomas: Wie ist die Diskriminierung in der Schweiz erkennbar?
David: Einem Kollegen wurde der freie Tag für die Hochzeit von einem Kantonsspital nicht gewährt, mit der Begründung, dass er bereits für die eingetragene Partnerschaft frei genommen habe. Selbstverständlich gibt es existentiellere Themen, jedoch zeigt das Beispiel auf, dass wir Vieles noch anpacken und diskutieren müssen.
Claudia: Wenn sich Betroffene verstecken müssen, keine Freiheit haben oder eingeschränkt leben müssen, ist das schlicht und einfach nicht ok.
Jill: Im Arbeitsumfeld gibt es bereits bei der Rekrutierung die verschiedensten Themen wie zum Beispiel den Vaterschaftsurlaub. Geht ein Unternehmen nicht mit der Zeit, suchen sich Bewerbende einen anderen Arbeitgeber.
Anna: Im Gegensatz zur Diskriminierung ist die psychische Gesundheit messbar. Diese ist signifikant schlechter als bei nicht Queeren-Menschen. Die Menschen mit Respekt zu behandeln, ist Suizid-Prävention und ein Thema der Menschenwürde.
Claudia: Wir müssen die Distanz wegbringen. Es geht nicht um die anderen und uns, wir sind alle gleich. Wir sollten einfach von Menschen sprechen, die die gleichen Rechte verdienen.
Was ist ehrliche Überzeugung, was Employer Branding?
Thomas: Die demographischen und technologischen Veränderungen haben einen grossen Einfluss auf den Arbeitsmarkt und ihre Teilnehmenden. Wie ehrlich sind in dieser Lage die «LGBTQI»-Anstrengungen und haben Labels oder ein CEO einer Grossbank, der am Zurich Pride Festival mitläuft, einen positiven Effekt?
Claudia: Ja, solche Aktionen öffnen vielen den Weg in ein Unternehmen.
Anna: Da möchte ich voller Liebe widersprechen. Mit Exposition werden gewisse Leute abgeschreckt. Erst wenn man das Risiko tiefgründig eingeht, finden Veränderungen statt.
David: Die «LGBTQI»-Community ist sehr sensibel und schaut genau hin. Was sind beispielsweise die Statements seitens Top-Management oder von Mitarbeitenden auf der Unternehmenswebsite? Ich persönlich wende mich bei Interesse an einer Firma direkt an die Mitarbeitenden, um authentische Erfahrungswerte zu sammeln.
Claudia: Für mich ist es dennoch ein Start zur Transformation. Wo ein Diskurs stattfindet, auch mit den Kritiker:innen, passiert etwas.
Thomas: Wie stellt man sicher, dass kein «Pinkwashing» betrieben wird?
Anna: Ich musste meine absolute Meinung revidieren. Durch die Arbeit für die Community habe ich viele queere Menschen kennengelernt, denen das Engagement der Unternehmen wahnsinnig viel bringt.
Jill: Durch meine Erfahrung spüre ich mittlerweile, wer echtes Interesse an dem Thema hat. Als ich in einem Vorstellungsgespräch in der Finanzbranche bei einer Adressänderung meine Partnerin erwähnte, hat die Rekrutierungsverantwortliche geantwortet, dass sie ebenfalls mit ihrer Partnerin zusammenwohne.
Thomas: Bringen Quoten etwas?
David: Das Unternehmen sollte sich mit seiner Kundschaft auseinandersetzen. Ist diese divers, sollte auch die Belegschaft ähnlich aufgestellt sein. Eine Quote braucht es dazu nicht. Die Situation in Norwegen finde ich zu hart. Optimalerweise motivieren wir uns selbst intrinsisch und ermöglichen beispielsweise den Müttern eine einfachere Rückkehr in den Job.
Claudia: Diese Meinung teile ich nur bedingt. Obwohl ich grundsätzlich keine Befürworterin von Quoten bin, scheint es mir, dass wir ohne diese nicht die gewünschte Realität der Zukunft erschaffen.
Einwurf aus dem Publikum von Markus Zbinden: Ich kann die Haltung gut nachvollziehen, jedoch ist es in gewissen Bereichen, zum Beispiel bei Positionen mit technischen Anforderungen, z.B. in den Bereichen IT und Ingenieurwesen, schlicht unmöglich, genügend qualifizierte Frauen zu finden.
Jill: Da schliesse ich mit voll und ganz an. Quoten schaffen noch mehr Schubladen. Ich persönlich möchte zudem keine Quotenfrau sein und begrüsse vielmehr Strukturanpassungen.
Anna: Wir sollten eines nicht vergessen: In den vergangenen Jahrhunderten war es gerade umgekehrt. Nicht die Kompetenz, sondern das Geschlecht war entscheidend in der Rekrutierung. Persönlich wünsche ich mir ebenfalls keine Quote, sondern vielmehr, dass die Menschen in Entscheidungspositionen das Unternehmen mit ihrer Toleranz und Offenheit bereichern.
Einwurf aus dem Publikum von Markus Zbinden: In der Schweiz müssen wir einen kulturell-gesellschaftlichen Wandel durchlaufen. Im Gegensatz zu Frauen/Müttern z.B. aus dem europäischen Raum, sind Schweizerinnen/Mütter leider weniger flexibel und werden vielleicht auch durch Ihre Männer oder ihrem weiteren familiären Umfeld bewusst oder unbewusst in ihrer Weiterentwicklung teilweise gehindert.
Claudia: Wenn nach der Geburt des Kindes eine Frau auf 60% und ein Mann auf 80% reduzieren, heisst es bei ihm cool und sie wird gefragt, ob sie es wirklich im Griff habe.
Anna: Wie viele 60% Stellen werden überhaupt Männern angeboten?
David: In der Schweiz bleibt meist die Frau zuhause, auch wenn mittlerweile alle zwei Wochen ein Vatertag modern ist. In dieser Hinsicht stehen wir noch als Bergvolk da. Wir sollten aktiv Strukturen schaffen, die es ermöglichen, dass Frauen rascher wieder arbeiten können,
Thomas: Wo steht die Schweiz?
David: Auf dem Rainbow-Mapping der ILGA in Europa belegt die Schweiz von knapp 70 Ländern den 19 Platz, dank der Ehe für alle.
Jill: In der Schweiz dauert alles etwas länger, weil wir die Gesellschaft miteinbeziehen.
Rolle des HR und der GL – wie erreicht man Veränderungen?
Thomas: Führen heisst Vorbild sein – vor diesem Hintergrund kommt dem HR, der GL und vielleicht sogar dem VR eine besondere Rolle zu, denn sie sind das Gesicht des Unternehmens.
Jill: Im Recruiting sollte eine klare Position eingenommen werden. Zum Beispiel: werde ich bei einer Geschlechtsangleichung unterstützt? Gute Wegleitungen für das HR gibt es bereits.
David: Die Verantwortlichen sollten prüfen, weshalb Bewerbende aus dem Rekrutierungsprozess ausscheiden. Hat ein Kopftuch auf dem CV-Foto einen Einfluss auf die Kompetenz der Person?
Claudia: Das «Swiss LGBTI Label» gibt den Rahmen für Veränderungen in einem Unternehmen. Damals starteten auch wir mit einer Bottom-up Aktion eines informellen Netzwerkes, suchten Sponsoren in der Geschäftsleitung und führten Trainings für Führungskräfte durch. Wenn es zum Herzessthema wird, kann seitens HR extrem viel bewegt werden.
Anna: Das Label ist eine grossartige Sache!
Empfehlungen an die Arbeitswelt
Thomas: Was ist eure persönliche Empfehlung an die Unternehmen?
Jill: Eine Kultur von Toleranz leben und dabei jede Person optimal unterstützen.
Anna: Einführung eines obligatorischen Grundkurses zum Thema, vom CEO bis zur Reinigungskraft.
David: Jeder Mensch kennt im Umfeld eine Person, die von dem Thema betroffen ist. Setzt euch persönlich mit dieser auseinander.
Claudia: In der Arbeitswelt den Menschen in seiner Gesamtheit wahrnehmen, wie sie:er ist.
Einwurf von Helena Trachsel, Gast und Leiterin der Fachstelle für Gleichstellung von Frau und Mann, Kanton Zürich: «Das Leben von Toleranz ist kein Nice-to-have, vielmehr ist es im Sinne der Menschenwürde eine Pflicht, die vom Gesetz vorgegeben ist. Der Art. 8 Abs. 2 der Bundesverfassung der Schweizer Eidgenossenschaft besagt: Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung».
Diversity heisst Vielfalt. Es bedeutet, dass alle Menschen unabhängig von ihrem sozioökonomischen oder ethnischen Hintergrund, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Religion oder Weltanschauung, ihrem Lebensalter, ihren psychischen oder körperlichen Fähigkeiten wertgeschätzt werden und ihr Potenzial einbringen können.
Inclusion ist zu verstehen als inklusive Kultur. Das bedeutet, dass individuelle Vielfalt akzeptiert und verstanden wird und alle haben das Gefühl, dazu zugehören. Vielfalt ist nur dann eine Bereicherung, wen sich alle im Team willkommen, zugehörig, und fair behandelt fühlen und die Zusammenarbeit auf Augenhöhe und ohne Wertung stattfindet.
Quelle: Liza Follert
Quote Verna Myers: «Diversity is being invited to the party. Inclusion is being asked to dance”.
Fotos: Maya Töpperwien
Meines Erachtens wird dem Thema zu große Beachtung geschenkt. Wir Arbeitgeber kümmern uns immer um unsere Mitarbeitenden, ohne Frage der Herkunft und der Neigung usw.
Bitte lasst vor allem die schriftliche Sprache wie sie ist und wenn es geht keine weiteren gesetzlichen Vorschriften.
Lieber Jan
Herzlichen Dank für deinen wertvollen Beitrag. Es freut uns sehr, wenn Unternehmen mit gutem Beispiel vorangehen und sich um ihre Mitarbeitenden kümmern.
Leider ist dies im Arbeitsalltag (noch) nicht immer die Normalität. Als Beratungsboutique setzen wir uns für eine moderne Arbeitswelt ein. Deshalb ist uns dieses Thema (als eines von vielen) wichtig.
Entscheidend ist der Dialog, um effiziente und faire Lösungen zu erreichen, die allen – den Unternehmer:innen, Manager und Arbeitenehmenden – etwas bringen.
Grüsse und weiterhin viel Erfolg
Bernie