Seilschaften und Vetterliwirtschaft in der Unternehmenswelt
Aus dem Archiv für HR Today von Sabine Biland-Weckherlin
Seilschaften sind aus dem Bergsport nicht wegzudenken. Eine Gruppe verbindet sich mit einem Berg- oder Kletterseil. Das gemeinsame Sicherungsseil bietet ihren Mitgliedern gegenseitige Sicherung gegen Absturz – und noch viel schöner in der Bildsprache: Der Stärkere zieht den Schwächeren hoch.
Auch an den Steilhängen der Unternehmenswelt kommt es zur Bildung von Seilschaften. Im übertragenen Sinne werden diese für informelle Gruppierungen von Personen benutzt, die sich in ihrem beruflichen Vorankommen gegenseitig fördern. Seilschaften – auch oder gerade in der Unternehmenswelt – sind für «Insider» sinnvoll und hilfreich, doch ihnen haftet meist ein negativer Beigeschmack an.
So entstehen in Unternehmen Netzwerke von vertrauten Personen, die ein gemeinsames Interesse an der Beschleunigung oder Sicherung ihrer Karrieren vereint. Gemeinhin unter dem Begriff «Sauhäfeli und Säudeckeli» bekannt, erweisen sich diese Beziehungen zwischen Förderer und Protegé als wertvolle Kletterhilfen beim karrieremässigen Gipfelsturm. Wobei jeder Förderer in der Nahrungsmittelkette der Unternehmen stets auch gleichzeitig ein Protegé eines höhergestellten Mentors ist. Dieses gedankliche Kletterspiel kann beliebig bis hin zur Unternehmensspitze betrieben werden.
Solche Führungscliquen und Machtzirkel laufen Gefahr, durch die opportunistische Machterhaltung den Blick für die Unternehmensrealität zu verlieren. Denn im Vordergrund steht der Machterhalt und das Zuschanzen von Privilegien. Selbstkritische, konstruktive Auseinandersetzungen, die für die Entwicklung des Unternehmens unabdingbar wären, werden vermieden. Bedrohliche Mitarbeitende werden entlassen oder ausgegrenzt. Das bleibt nicht ohne Folgen.
Ungesunde Verquickungen
Zwei Beispiele aus der Praxis:
Beispiel 1:
Der alternde, machtversessene CEO zieht seinen jungen Zögling nach und hievt diesen als seinen Statthalter auf den COO-Sattel. Die Belegschaft steht zwar Kopf, aber der CEO schafft es, mit diesem taktischen Schachzug nach seiner nahtlosen Wahl zum Verwaltungsratspräsident für Kontinuität respektive operative Kontrolle innerhalb der Firma zu sorgen.
Ein gestandenes, fachlich ihm um ein Mehrfaches überlegenes Kadermitglied wurde dem Jüngling in der Phase eins unterstellt und musste in der Phase zwei den Hut nehmen. Den verbleibenden Mitarbeitenden ging es mit der Faust im Sack auf ihre Weise nicht viel besser.
Beispiel 2:
In einem Grosskonzern stellt der HR-Länderchef seine frühere Arbeitskollegin in seinem Team als HR-Business Partner ein. Beide decken sich gegenseitig auf gekonnte Weise – sei es, wenn es darum geht, Abwesenheiten als Homeoffice zu vertuschen, ausbleibende Leistungen wirkungsvoll mit Schall und Rauch zu überdecken oder unliebsame Mitarbeitende aus der Organisation zu entfernen.
Günstlingswirtschaft in voller Blüte
Oft gehören die «Opfer» solcher Machenschaften zur Gruppe der unbequemen, gar gefährlichen, weil kritischen Mitarbeitenden und sind den selbstgefälligen, lediglich auf die eigene Positionierung bedachten Managern oftmals ein Hindernis auf dem Weg nach oben.
Dieselben machterhaltenden Praktiken lassen sich teilweise schon bei Personalanstellungen beobachten, bei denen das Beziehungsnetz spielt und über der individuellen Eignung des Kandidaten oder der Kandidatin steht.
In den meisten Firmen werden auch Beförderungen, Lohnerhöhungen, spezielle Förderprogramme oder Bonuszahlungen durch Seilschaften begünstigt. Die Günstlingswirtschaft steht dabei in voller Blüte und berücksichtigt oftmals nicht die nach objektiven Kriterien qualifiziertesten Mitarbeiter:innen und Kolleg:innen.
Fatale Konsequenzen
In den genannten reellen Vorkommnissen kam es zu «Opfern» auf den untern Stufen der Abhängigkeitskette in Form von irrational begründeten Entlassungen.
In beiden Fällen gab es aufgrund der internen Verflechtungen der Verbündeten in Schlüsselpositionen keine Möglichkeit der Intervention an eine neutrale, übergeordnete Ombudsstelle. Die Chef-Chefs konnten systembedingt nichts gegen die von ihnen eingesetzten, direkt unterstellten Mitarbeitenden unternehmen, da sie sich damit indirekt selber in Frage gestellt hätten.
Die von der Kündigung betroffenen Mitarbeitenden erkannten ebenso ohnmächtig wie pragmatisch, dass aufgrund der internen, stufenüberspannenden Abhängigkeiten niemand etwas gegen die als gänzlich irrational empfundenen Entlassungen oder Unrechtmässigkeiten unternehmen konnte. Auch wenn man den Dienstweg im Organigramm weiter nach oben gegangen wäre, so hätte sich nichts geändert.
Im Gegenteil ziehen sich die fatalen personellen Verstrickungen durch das ganze Unternehmen. Nur im äussersten Falle erfolgt ein Köpferollen der verursachenden, übergeordneten Strippenzieher – meist hingegen erfordern sie Opfer unter talentierten, eigenständig denkenden und starken Mitarbeitenden.
Bedauerlicherweise haftet dem HR oft der Ruf fehlender professioneller Unabhängigkeit an, was keine Vertrauensgrundlage für die betroffenen Mitarbeitenden darstellt. Da es in den meisten Firmen leider keine unbefangene Anlaufstelle für die Meldung von subjektiv oder objektiv erlebten Missständen gibt, sind Frust-Plattformen wie Kununu einziges Aussenventil für erlebtes Unrecht. Das Whistleblowing als Ultima Ratio stellt aufgrund der bekannten problematischen Konsequenzen für die Informanten ebenfalls keine seriöse Alternative dar.
Eigenständige Persönlichkeiten statt Angstkultur
Unternehmen scheitern meist an Menschen, so auch an Führungskräften, die nur am eigenen Vorteil respektive an ihrem individuellen karrieremässigen Vorankommen interessiert sind – wie am Beispiel solcher informellen Seilschaften aufgezeigt.
Bei derartigen Abhängigkeiten besteht eine erhebliche Gefahr von schädlicher Betriebsblindheit. Die natürliche Folge: Qualitätsverluste und der Abgang wertvoller Teammitglieder.
Besonders zu denken gibt dabei die beobachtete Angstkultur, welche die Mitarbeitenden mancher Firmen hinsichtlich jeglicher Intervention zu lähmen scheint. Es ist zu hoffen, dass die Führungsetagen vermehrt Klarheit und konsequentes Verhalten walten lassen, um die unerwünschten Verhaltensweisen auszumerzen. Doch der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf und darum ist ein Umdenken weg vom «Filz» hin zu einer objektiven Meritokratie erforderlich. Organigramme sollen nicht mehr aufgrund von personellen Seilschaften entstehen, sondern auf der Basis persönlicher Verdienste und Kompetenzen. Gefragt sind eigenständige, mutige Persönlichkeiten, die im Interesse der Firma und ihrer Mitarbeitenden handeln.