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Wo ist bloss der Anstand geblieben?

Aus dem Archiv für HR Today von Sabine Biland-Weckherlin

Man muss beileibe nicht gleich den Knigge bemühen, um zum Schluss zu gelangen, dass heutzutage in der Chefetage einzelne verbale Ausrutscher oder emotionale Entgleisungen scheinbar salonfähig geworden sind. Beispiele unserer Kunden gefällig?

«Solche Themen sind exakt auf jemanden wie Sie ausgerichtet – jung, blond und ungebildet.» Oder: «I talk – you listen.» Kein Wunder, machen sich die so Angesprochenen auf die Suche nach einer neuen Stelle. Einer Position, wo sie mit Respekt behandelt werden. Dies schliesst unbeherrschte, diktatorische und unberechenbare Vorgesetzte von vornherein explizit aus!

Ist es der rauere wirtschaftliche Wind, der einen rüderen Umgangston auf Managerebene vermeintlich rechtfertigt? Sind die von Quartalsabschlüssen getriebenen Manager die Schuldigen, die nur mehr kurzfristigen Unternehmenszielen verpflichtet und weniger auf Nachhaltigkeit bedacht sind? Oder gelangen zu oft selbstverliebte Karrieristen in die Chefetagen, die mit dem «Schnellzug durch die Kinderstube» respektive die Managementausbildung gefahren sind? Die Menge der Rückmeldungen und die eigenen Beobachtungen verleiten zur Feststellung, dass sich unter den führenden Managern, gelinde gesagt, eine grosse Anzahl anstrengender Persönlichkeiten befindet. Man könnte gar von narzisstisch veranlagten Menschen sprechen, deren Eigen- und Fremdwahrnehmung erheblich auseinanderklaffen.

Dies alles ist nicht neu – ebenso wenig wie der daraus resultierende Verlust einer authentischen Vorbildfunktion, das Schwinden der Arbeitsmoral und der unwiederbringliche Gesichtsverlust des unbeherrschten Vorgesetzten. Neu und erschreckend sind hingegen das Ausmass der grassierenden Unkultur und die dramatischen Folgen auf die Mitarbeitenden. Die einen reagieren mit Verunsicherung, die andern machen die Faust im Sack oder setzen auf den «Göschenen-Airolo-Effekt». Einige kündigen innerlich und diejenigen, die couragiert und unabhängig genug sind, werfen das Handtuch. So verlieren namhafte Firmen in Zeiten des Fachkräftemangels möglicherweise Talent um Talent, während der Verursacher bleibt und meist politisch so gut im Unternehmen positioniert ist, dass er trotz auffallender Fluktuation auch weiterhin auf die Unterstützung von oben zählen kann. Dabei wäre es möglicherweise effizienter, den Auslöser loszuwerden. Insofern ist dieser Beitrag auch ein Aufruf an alle Betroffenen, sich vor dem Schritt zur Kündigung gemeinsam für einen Kulturwandel einzusetzen.

Anstand ist ebenso gleichbedeutend mit gegenseitiger Wertschätzung, wie Unternehmenserfolg und Respekt Hand in Hand gehen. Gewisse Manager wären gut beraten, sich dies vermehrt vor Augen zu führen.